Als ich 19 war, heiratete ich einen Süditaliener gegen den Willen meiner Eltern. Trotzdem bekam ich ihren Segen und ihre Unterschrift. Ich sprach kein Italienisch, er kein Deutsch. Ich sagte Buona Sera, er guete Abig. Am Hochzeitstag fuhren wir mit der Pferdekutsche durch das Dorf und warfen Feuersteine auf die Strassen und winkten. Wir fuhren zu jeder Ferienzeit nach Italien und nur einmal in unseren sieben gemeinsamen Jahren in ein anderes Land. Ich lernte, Tomatensauce richtig zu kochen mit Olivenöl, Knoblauch, Zwiebeln und Pelati und nicht einer Zutat mehr. Die Zeit und die Herdplatte, die ihre Hitze stundenlang an die Sauce abgeben musste, auf kleinem Feuer, taten den Rest, bis zu einer sagenhaften Reduktion. Wenn die kleine Pfütze Olivenöl endlich an der Oberfläche schwamm, dann war sie gut und pronto. Ich lernte, seine stundenlangen Telefongespräche mit seiner Mutter zu tolerieren, des Friedens willen, doch nicht zu akzeptieren. Die Telefonrechnungen am Ende des Monats versetzten mich stets in einen Schockzustand, heulend, wütend und fassungslos versuchte ich zu verstehen, was ich nicht konnte – ich war zweifellos die Nummer zwei in seinem Leben. Mit den Jahren schlug er mich. Er schrie mich an. An den Tagen darauf schlich ich durch unser Treppenhaus und hoffte, niemandem zu begegnen. Meine verheulten Augen fanden erst am Abend in ihren ursprünglichen Zustand zurück. Direkte Nachbarn mied ich, ich schämte mich. Unmöglich, dass niemand gehört hatte, wie er mich schreiend durch den Abend zog. Er verbot mir, männliche Freunde oder Wesen überhaupt zu grüssen. Er kontrollierte mein Leben, wo immer möglich. Nach dem Abendessen, das wir gemeinsam assen, warf er sich in Schale und Parfum und fuhr mit dem Fiat, der noch abbezahlt werden musste, stundenlang im Schritttempo durch die Strassen und betrachtete Leute und Dorf und liess sich dabei selbst betrachten. Die Fensterscheibe heruntergekurbelt, der Ellbogen draussen, das Haar nach hinten gekämmt, festgeklebt mit einem Schaumfestiger aus unserem Bad. Wenn er nach Hause kam, kifften wir und liebten uns so, wie es ihm gefiel. Manchmal stellte ich mich schlafend. Dann schwappte sein stummer Frust über mir zusammen, erdrückend raubte er mir Schlaf und Sicherheit. Trotz allem hatte er ein zärtliches und einnehmendes Gemüt, doch ohne jegliche Konstanz. Ich wusste nie, was mich erwartete. Heute nicht, morgen nicht, dazwischen nicht. Glück und Unglück lagen nebeneinander wie eineiige Zwillinge.
In unserer Wohnung hatten wir ein Zimmer, welches die wenigen Gäste, die wir hatten, beherbergte. Ein Vogelkäfig stand in einer Ecke, darin Zebrafinken, Vögelchen klein wie der Finger eines dreijährigen Kindes. Seltsamerweise wollte er sie haben. Wir kauften das kleine Vogelpärchen an einem wolkenverhangenen Tag im Herbst und fuhren mit ihm heim, der Käfig auf dem Rücksitz, die Vögelchen aufgeregt und ununterbrochen piepend, als hätten wir sie entführt, hatten wir ja auch.
Zebrafinken können nicht alleine leben, man muss sie als Paar kaufen. Tut man dies nicht, stirbt das eine an Einsamkeit. Sie singen nicht, sie piepen. Sie geben diesen Ton von sich, der unbeschreiblich ist. Keine Melodie versüsst das Zimmer, man hört den halben Tag nur dieses Piepen, das seltsam tief aus dem kleinen roten Schnabel kommt. Unser Pärchen war ständig am Brüten, balzen und Nest bauen, doch die Kleinen schlüpften nie. Eines Tages briet mein Onkel tatsächlich Spiegeleier aus dieser unausgebrüteten Pracht, nicht der kleinsten der Welt, doch klein. Er schlug die Mini-Eier in die Pfanne und briet sie wie Spiegeleier, ass sie dann in einem Happen, alle drei hatten auf der Gabel Platz. Unsere Augen folgten diesem Schauspiel wie einem spannenden, doch schockierenden Theaterstück.
Jeden Samstagmorgen putzte mein junger, italienischer Ehemann den Vogelkäfig, mistete aus und versorgte die Tiere mit neuem Futter, Sand und Wasser. An diesem Morgen hatte er weder Zeit noch Muse, er hatte andere Pläne. Rasch wollte er die Pflicht erledigen. Der potente Staubsauger, den er immer zur Hand nahm, saugte schnell und atemlos Staub, Körner, Federn ein. In dieser Zeit durften die Vögelchen frei im Zimmer fliegen, was Aufregung und Freude zugleich war.
Ich sass in der Küche und las. Das monotone Summen des Staubsaugers lullte mich ein. Eben erst aus dem Bett gekommen, hatte der Schlaf noch leichtes Spiel mit mir. Als der Ton verstummte und mein Süditaliener an mir vorbeirannte, direkt auf den Balkon zu, den Sack des Saugers fest in der Hand, verfolgte ich diese nette Abwechslung vom Küchentisch aus. Das Geschehen lief wie ein Film vor meinen Augen ab. Ich verstand nicht, warum er mit dem Sack auf den Balkon rannte. Er hätte ihn doch später wechseln können, besonders heute, wo die Zeit drängte. Als er ihn in aller Hast aufschnitt und über dem Tisch entleerte, stob ihm eine Wolke aus Federn, Staub und Allerlei entgegen. Er hustete. Erst da sah ich, dass er mit spitzen Fingern ein kleines, zerfleddertes Etwas rauszog und es vor sein Gesicht hielt – ich schrie kurz auf: ein Vögelchen, ein vollkommen zerzaustes dazu! Die Erkenntnis erreichte nur zögerlich mein Hirn. Er hatte sein Zebrafinkli eingesogen! Der staubige Erstickungstod muss sofort eingetreten sein. Schlaff baumelte es zwischen seinen Fingern, er starrte betrübt auf den kleinen, leblosen Körper.
Bereits hörten wir das verzweifelte Piepen des zurückgebliebenen, anderen Finklis, eindringlich rief es immer wieder, doch die Rufe blieben unerhört und verloren sich im offenen Raum. Den ganzen Nachmittag lang rief es ohne Unterbruch und die Hoffnung schwand, ein Wiedersehen mit dem Schätzli würde nie zustande kommen und es starb tatsächlich an gebrochenem Herzen einen Tag später.
Noch heute zieht sich meines zusammen, wenn ich daran denke.
Und auch, wenn ich an das andere denke. An jenem Tag beschloss ich, meinen Mann zu verlassen und ich tat es ohne Ressentiments. Ich hatte genug vom blanken Schein eines Lebens, das nicht meines war. Ich hatte genug davon, nicht wahrgenommen zu werden. Ich hatte genug von allem.
Ich wollte nicht enden wie die Vögel.